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Wissenschaft

In unsicheren Zeiten muss die Politik Entscheidungen unter Unsicherheit treffen. Feste Orientierung und Unterstützung sucht sie bei der Wissenschaft. Was kann Wissenschaft liefern im öffentlichen Diskurs, wo "wisssenschaftliche Beweise" auf "fake news" treffen? Es lohnt sich gelegentlich, sich die Ziele, Methoden und Grenzen von Wissenschaft ins Bewusstsein zu rufen.

 

Was hat das hier in meinem Blog zu suchen? Es ist zwar schon einige Jahre her, dass ich eine Vorlesung zum Thema "Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten" aufbauen durfte. Jetzt hilft mir ein Blick in die alten Skripte und Präsentationen, ein wenig Halt zu finden. Die jahrtausendealten Texte über das Bestreben der Menschen, Wissen zu erlangen, standen stets am Anfang der Seminare und sollten auch heute noch zu denken geben. Zu dem Stichwort "Wissenschaft" liefern Sie wohl einen guten Auftakt.

 

Wissenschaft als Grundlage von Fortschritt

 

Die alten Texte drücken vor allem Skepsis aus gegenüber der Möglichkeit, Wissen zu erwerben und zu vermehren. Und doch haben die Wissenschaften über die Jahrtausende hinweg der Menschheit große Fortschritte erbracht hinsichtlich

  • der Sicherung der Lebensgrundlagen
  • Gesundheit und Wohlbefinden
  • Entlastung des Lebensalltags
  • kultureller und zivilisatorischer Bereicherung des Lebens
  • individueller Entwicklungsmöglichkeiten

 Ob die Erfolge der Wissenschaften tatsächlich den Menschen zu Gute kommen, die ja im Grunde zu einem glücklichen und erfüllten Leben streben, wird seit jeher diskutiert. Soziologen und Ökonomen bemühen sich neuerdings, mit demoskopischen Methoden die Grade von geäußertem Glücksempfinden im internationalen Vergleich festzustellen.

 

Wenn sich Wissenschaftler an das Messen von nicht messbarem, wie das individuelle Glück wagen, sagt das vor allem etwas aus über den Wagemut, man kann auch sagen die Chuzpe dieser Wissenschaftler. So kam eine 1998 erschienene Studie der London School of Economics and Political Science zu einer Rangliste von Staaten mit Bangladesch, Aserbaidschan, Nigeria, Philippinen und Indien auf den fünf ersten Plätzen, was das Glücksempfinden der dort Befragten angeht. Nicht gerade Länder mit ausgeprägt fortschrittlichen technischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen. Ganz anders der Weltglücksbericht von 2019, erstellt im Auftrag der Vereinten Nationen. Hier stehen ganz vorne: Finnland, Dänemark, Schweiz, Island und Norwegen. All das kann heute Wissenschaft. Und all das stellt sie in Frage.

 

Anspruch von Wissenschaft

 

Einige Grundsätze, auf denen wissenschaftliches Arbeiten basiert, sollten sich Wissenschaftler wie auch die Rezipienten ihrer Ergebnisse vor Augen halten. Hierzu wieder eine meiner Vorlesungsfolien.

 

Dazu wäre viel zu sagen. Zu jedem dieser Punkte fallen dem aufmerksamen Beobachter „fröhliche“ Verstöße in der Praxis ein. Der verantwortungsvolle Bearbeiter von Auftragsforschung wird zumindest bei nicht eindeutigen Ergebnissen verbal den Konjunktiv einsetzen und bei numerischen Angaben die Streuung, Bestimmtheitsmaße und Wahrscheinlichkeiten hinzufügen. Was dann der Auftraggeber oder der Interpret daraus ableitet, ist eine andere Sache und verläßt den wissenschaftlichen Korridor.

 

Methodische Ansätze

 

Wie arbeitet eigentlich moderne Wissenschaft? Das nachstehende Schaubild versucht, Struktur in die wesentlichen Ansätze zu bringen.

 

Große Konjunktur haben heute Modellbauer. Ihre Arbeit unterstützt die Politik dort, wo herkömmliche Werte- und Entscheidungssysteme versagen oder aufgegeben wurden und wo alte Zeitreihen nicht einfach in die Zukunft prolongiert werden können. Das Bemühen, aus Beobachtungen der Vergangenheit Gesetzmäßigkeiten herauszulesen und zu quantifizieren, ist aller Ehren wert. Aus den empirischen Beobachtung per Induktion abgesicherte Wahrheiten abzuleiten zu wollen, weist aber auf ein völliges Missverständnis von Wissenschaft hin. Diese muss immer offen sein für Widerlegung, und sollte sogar danach streben.

 

Das Allgemeine und das Besondere

 

In der öffentlichen, zunehmend heftigen Diskussion zu aktuellen Fragen gehen vielfach die streitigen Argumentationen von unterschiedlichen Betrachtungsebenen aus. Aussagen zu allgemeinen Trends oder zusammenfassende Situationsbeschreibungen werden gekontert mit Aussagen über gegensätzliche Einzelbeobachtungen. Und umgekehrt. Das kann nie zu einem Konsens mit konstruktivem Ausgang führen. Da fällt mir ein Text ein, den Arthur Schopenhauer seiner Dissertation voranstellte. Einen Kommentar oder eine Erläuterung maße ich mir nun wirklich nicht an. Aber vielleicht findet jemand Freude an der Lektüre dieser ernsthaften, grundlegenden Auseinandersetzung eines 25-Jährigen mit Fragen der Wissenschaft.

 

Was hier als Prinzip der Homogeneität bezeichnet wird, lebt in der Wissenschaftstheorie weiter unter dem Begriff Sparsamkeitsprinzip, auch 'Ockhams Rasiermesser' genannt. Darauf habe ich mich aus gegebenem Anlass kürzlich schon in einem Logbucheintrag bezogen. Festzuhalten bleibt aber die Aufgabe, bei der Suche nach der Wahrheit ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den verallgemeinernden Betrachtungen und den empirischen Einzelbeobachtungen zu suchen. Im politischen Tagesgeschäft ein frommer Wunsch.

 

Eine neue Erscheinung tritt in jüngster Zeit verstärkt in Verbindung mit politischen Entscheidungen auf: der "wissenschaftliche Konsens" und der "Stand der Wissenschaften". Dazu nochmal ein Schopenhauer-Zitat: "Einer gibt immer dem anderen Recht, und da meint ein einfältiges Publikum, sie hätten wirklich Recht".